„Wir sind mitten im Sterben zum Leben bestimmt“
(Lothar Zenetti)
Das Zenetti-Wort hat P. Paulus vor einiger Zeit aufgeschrieben mit dem Zusatz „Wahlspruch für Totenzettel und Totenbrief“. In der vergangenen Nacht hat Bruder Tod bei P. Paulus angeklopft und ihn im Sterben zum Leben geleitet. Nun ist er in der Nähe dessen, der ihm in der Taufe seine Nähe zugesagt hat, dem er als Franziskaner und Priester gedient hat, der ihm Quelle des Lebens und der Hoffnung war. P. Paulus wurde am 9. April 1936 als Sohn der Eheleute Elisabeth und Josef Lammers in Holthausen (jetzt Laer) geboren. Dort erlebte er seine Kinder- und Jugendzeit und war Messdiener in der nahegelegenen Pfarrkirche. Hier begegnete er während einer Volksmission den Franziskanern. Am 20. April 1951 kam er in das Franziskanerkolleg St. Ludwig hinter der holländischen Grenze: „So kam ich nach St. Ludwig, das mir im Laufe der Zeit zur zweiten Heimat wurde“, schreibt er in seinen Erinnerungen. Nach dem Abitur trat er 1956 in den Franziskanerorden ein. 1960 legte er die ewige Profess ab und 1962 wurde er in Paderborn zum Priester geweiht. Von 1963 – 1965 wirkte er als Präfekt und Lehrer im Kolleg St. Ludwig. Von 1965 – 1970 studierte er die klassischen Sprachen Latein und Griechisch in Kiel. Im dortigen Franziskanerkloster war er in diesen Jahren auch Guardian. Nach Staats- und Assessorexamen kehrte er 1972 wieder nach St. Ludwig zurück, wiederum als Lehrer und Präfekt. 1977 gehörte er zu den drei ersten Franziskanern, die nach Osnabrück umzogen, wo die Provinz die Ursulaschule übernahm. Hier wirkte er bis 1991 als Lehrer. Zusätzlich übernahm er von 1986 – 1991 den Dienst des Guardians für die Gemeinschaft an der Bramscher Straße. 1991 berief ihn der Generalminister Hermann Schalück an die Generalkurie nach Rom, wo er die „Acta Ordinis“ redigierte und den Dienst als Hausvikar wahrnahm. 1997 kehrte er nach Deutschland zurück, arbeitete in der Gemeinde St. Ludwig in Berlin mit und war von 1998 – 2004 dort auch Guardian. 2004 wechselte er als Hausvikar ins Warendorfer Kloster und 2006 in das Provinzialatskloster der Saxonia nach Hannover. Als das Hannoveraner Kloster bei der Vereinigung der deutschen Provinzen 2010 geschlossen wurde, wechselte er ins Kloster Dorsten. Hier verbrachte er die letzten Jahre seines Lebens. In den vergangenen 1 ½ Jahren ließen seine geistigen Kräfte rapide nach. Darum wechselte er – in einem klaren Moment hat er dem Guardian das als Wunsch gesagt – in die Pflegeabteilung der Provinz im Theresianum in Fulda. Nach nur einer Woche ist er dort gestorben. In Paulus verabschieden wir uns von einem Mitbruder, der liebenswürdig, einfühlsam und aufmerksam seinen Mitbrüdern und den Menschen begegnete. Sein Scharfsinn und sein trockener Humor haben uns oft zum Staunen und zum Lachen gebracht. Er lässt viele Freunde hier auf der Erde zurück, Menschen, die ihn geliebt und geschätzt haben. Am 11. Februar haben wir P. Paulus in der Grabstätte der Franziskaner auf dem Dorstener Friedhof aan der Gladbecker Straße beigesetzt.
Ansprache beim Requiem für P. Paulus Lammers (11. 02, 2022)
Die Ansprache hielt der langjährige Kollege an der Ursulaschule in Osnabrück P. Geort Andlinger, der jetzt in Franziskanerkloster Kreuzberg in der Rhön lebt.
„Wir sind mitten im Sterben zum Leben bestimmt“. Diese Zeile aus einem Lied von Lothar Zenetti hat P. Paulus vor einiger Zeit aufgeschrieben mit dem Zusatz „Wahlspruch für Totenzettel und Totenbrief“. Mit dieser Zeile beginnt die letzte Strophe des Liedes. Die erste Strophe beginnt mit der Zeile „Wir sind mitten im Leben zum Sterben bestimmt“.
Paulus war bereits bei der letzten Strophe des Liedes angekommen. Er war wohl zu der Gewissheit gelangt, dass seine Zeit mitten im Leben sich dem Ende zuneigte und dass er nun bald den Schritt mitten ins Sterben werde tun müssen. Wir sind mitten im Leben zum Sterben bestimmt. Das wissen wir alle – zumindest ist dieses Wissen in unserem Hinterkopf theoretisch vorhanden. Aber wenn wir noch mitten im Leben stehen, dann ist der Gedanke, dass wir zum Sterben bestimmt sind, nicht unbedingt die treibende Kraft unseres Handelns. Paulus hat mitten im Leben gestanden, überall dort, wo er gelebt hat, wo er gewirkt hat, wo ihm Aufgaben und Ämter übertragen wurden, wo er Verantwortung wahrgenommen hat, wo er mit Menschen zusammen war. Es war ein reiches und erfülltes Leben – davon gibt der Lebenslauf im Totenbrief Zeugnis. In seiner Kindheit im münsterländischen Holthausen wurde er „katholisch sozialisiert“, wie man heute sagt. Dann weitete sich sein Horizont, insbesondere sein Bildungshorizont, mit der Aufnahme als Schüler in das Kolleg St. Ludwig in den Niederlanden, wo er mit dem franziskanischen Leben vertraut wurde und wo sein Interesse an Latein und Griechisch, den Sprachen des klassischen Altertums, geweckt wurde, wo auch sein Intellekt herausgefordert, geformt und gebildet wurde. Nach dem Abitur trat er in den Franziskanerorden ein, um Theologie zu studieren und Priester zu werden, wie es viele seiner Klassenkameraden taten. Sein Interesse am klassischen Altertum, an der Philologie, an den alten Sprachen, war während seines Theologiestudiums lebendig geblieben. Es folgte das Zweitstudium in Latein und Griechisch und dann nach der Ersten und Zweiten Staatsprüfung eine lange, erfüllte und arbeitsreiche Zeit als Lehrer, zunächst in seiner alten Schule im Kolleg St. Ludwig, dann, von 1977 bis 1991 an der Ursulaschule in Osnabrück. Das war auch die Zeit unseres gemeinsamen Lebens und Wirkens im Franziskanerkloster an der Bramscher Straße und im Lehrerkollegium der Ursulaschule. An dieser Stelle möchte ich auch die anderen Mitbrüder nennen, die Franziskaner, die als Lehrer an der Ursulaschule tätig waren und inzwischen verstorben sind: Werinhard Einhorn, unser langjähriger Schulleiter, Ulrich Dünschede, der erste Guardian des Konventes an der Bramscher Straße, Dieter Sommer, Gabriel Fiehe, Rudolf Kohlstrung und Markus Hunecke. Viele Erinnerungen aus dieser Zeit in Osnabrück werden immer wieder in mir wach. Eine Erinnerung möchte ich hier herausgreifen, auch weil Paulus selbst davon gesprochen hat, als ich ihn im vergangenen Jahr zum letzten Mal hier in Dorsten gesehen habe. Paulus war Leiter des Fachbereichs Latein, ich war für Französisch zuständig, und so mussten wir beim Informationsabend für die neuen Klassen 7 die Schülerinnen und Schüler der Klassen 6 der damals in Niedersachsen noch existierenden Orientierungsstufe und deren Eltern über die Wahl zwischen Latein und Französisch als zweite Fremdsprache informieren. Paulus und ich wollten allerdings nicht nur informieren, sondern auch die Schülerinnen und Schüler für die Entscheidung zur Wahl der jeweils von uns vertretenen Fremdsprache motivieren und mussten also sozusagen als Kontraheten gegeneinander antreten, und dann konnte sich einer von uns beiden später bei den Anmeldungen, wenn die Zahlen der Anwahlen für Latein und Französisch bekannt waren, als „Sieger“ fühlen.
Ich zitiere aus dem Totenbrief:
In Paulus verabschieden wir uns von einem Mitbruder, der liebenswürdig, einfühlsam und aufmerksam seinen Mitbrüdern und den Menschen begegnete. (Und das gilt auch, so möchte ich hinzufügen, für die Art und Weise, wie er seinen Schülerinnen und Schülern gegenübertrat). Sein Scharfsinn und sein trockener Humor haben uns oft zum Staunen und zum Lachen gebracht. Er lässt viele Freunde hier auf der Erde zurück, Menschen, die ihn geliebt und geschätzt haben.
Ja, das kann ich voll und ganz unterschreiben, und so werden ihn auch alle seine früheren Kolleginnen und Kollegen und Schülerinnen und Schüler in Erinnerung behalten.
Diese Charakterisierung möchte ich noch etwas erweitern mit einem Zitat aus den Schriften der westfälischen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. In ihrer Schrift Westfälische Schilderungen (1841/42) schreibt sie dem Münsterländer unter anderem folgende Eigenschaften zu:
[Ein] tiefes Rechtsgefühl und eine stille Ordnung und Wirklichkeit, eine geringe Anlage zur Spekulation. Der Münsterländer ersetzt durch Eigenschaften des Herzens, was ihm an Geistesschärfe abgeht. Gänzlich abgeneigt, sich ungesetzlichen Handlungen anzuschließen, kömmt ihm doch an Mut, ja Hartnäckigkeit des Duldens für das, was ihm recht scheint, keiner gleich.
Eine Einschränkung muss ich hier allerdings machen: Gute Eigenschaften des Herzens hatte Paulus ganz gewiss, wenn er auch nicht das Herz auf der Zunge trug, aber er musste mit den Eigenschaften des Herzens ganz sicher nicht mangelnde Geistesschärfe kompensieren.
Wir sind mitten im Leben zum Sterben bestimmt. Wohin immer uns das Leben geführt hat, was immer die Erde uns geboten hat an Erlebnissen, Erfahrungen, Entdeckungen, Freude, Abwechslung und Genuss, die Erde, die uns vertraute Heimat war, die uns lockende Ferne war, die Erde, die fester Boden unter unseren Füßen war, diese Erde wird für uns alle einmal das Grab sein. Die Erde ist allen Menschen Grab geworden, die vor uns gelebt haben. Und so werden wir gleich den Leichnam der Erde übergeben. Unsere Erinnerungen an Paulus Lammers werden uns auf unserem Weg zum Friedhof und zum Grab begleiten. Aber unser Gedenken an den Verstorbenen, unsere Worte der Würdigung seines Lebens, unser Nachruf (bedenken wir einmal dieses Wort: Nachruf: da ist jemand von uns gegangen, und er geht einem Horizont entgegen, der uns noch verborgen ist; wir können nicht mehr von Angesicht zu Angesicht mit ihm reden, wir können ihm unsere Worte nur noch nachrufen), also unser Nachruf, das sind vorletzte Worte, denn: Wir sind mitten im Sterben zum Leben bestimmt. In Gottes Gericht wird das letzte Wort gesprochen. Da nimmt Gott unser Leben in seinen Blick und in seine Hand – und er spricht sein Wort zu diesem Leben: Kein Nachruf wird es sein, sondern Einladung: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, empfangt das Reich als Erbe, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist! Amen.